Bonn Lighthouse – Verein für Hospizarbeit

24. August 2020

Einmal das Meer sehen – Christofs Reise nach Norderney

Das Meer sehen, Seeluft riechen, die Weite spüren. Für Christof Seyfarth ist ein Kindheitswunsch in Erfüllung gegangen. Seit Mai 2017 lebt Christof im Wohnprojekt bei Bonn Lighthouse. Sein Gesundheitszustand hat sich in letzter Zeit deutlich verschlechtert, dreimal in der Woche muss er zur Dialyse. Einmal das Meer sehen – das klingt so einfach und ist angesichts der Situation doch extrem schwierig. Aber es hat geklappt. Ende Mai wurde Christofs Wunsch tatsächlich erfüllt – trotz schwerster Krankheit und trotz der Einschränkungen durch Corona. In Begleitung von Heidi, einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin bei Bonn Lighthouse, war er eine Woche an der Nordsee auf Norderney.

Jürgen Goldmann hat mit Christof über diese Reise gesprochen. D. h., vielmehr hat er zugehört und Christof über seine Eindrücke erzählen lassen.

Herr Seyfarth, Sie waren mit der ehrenamtlichen Mitarbeiterin Heidi Zimmermann Ende Mai für eine Woche auf Norderney. Solch ein Reiseprojekt gab es bislang bei Lighthouse noch nicht. Wie ist diese Idee entstanden?

Tja, wie ist diese Idee geboren worden? Mein Wunsch, mal ans Meer zu fahren, bestand eigentlich schon seit über 20 Jahren. Ich habe es irgendwie nie geschafft. Ich habe es nie geschafft, Urlaub zu machen. Jetzt ist es so gekommen, dass ich durch die Krankheit hier bei Lighthouse gelandet bin. Und auch hier war immer noch mein Wunsch, dass ich einmal ans Meer komme, bevor mir was anderes passiert. Ich hatte schon viel darüber gehört. Auch, dass man zumindest einmal im Leben dahin sollte und das Meer sehen.

Dann bin ich an die Dialyse gekommen und der Herr, der mit mir auf dem Zimmer war, der erzählte, dass er seit 25 Jahren nach Norderney fährt. Und er hat mir auch erzählt, dass es dort mit Feriendialyse sehr gut funktioniert. Das ist mir dann nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe das Thema hier mal angesprochen. Günter (Anm.: ein ehrenamtlicher Mitarbeiter bei Bonn Lighthouse) hat darauf gesagt: Ich kann mal mit dir für ein Wochenende ans Meer fahren. So kam die Idee ins Rollen. Aber ein Wochenende wäre zu stressig geworden. So meinte Heidi irgendwann, sie könnte mich begleiten. Sie könnte sich Urlaub nehmen – falls das von Lighthouse her mit der Begleitung auch über mehrere Tage in Ordnung ginge. Sie würde sich dafür die Zeit nehmen. Dann habe ich mit meiner Betreuerin hier, der Elke, gesprochen und sie hat das alles mit Lighthouse geklärt.

Das klingt gut. Jetzt muss ich aber doch noch mal nachfragen. Sie waren auch in der Kindheit nie am Meer? Und was hat Sie die ganzen Jahre gerade ans Meer gezogen? Warum nicht in die Berge, in die Wüste?

Tja, warum? Die Weite, der unendliche Blick. Ich wollte das Riesige mal sehen, nicht direkt wieder Land sehen. Wollte auch mit dem Schiff über das Meer fahren. Das war dann zwar nur eine Stunde, aber überhaupt… Und auch Ebbe und Flut, das mal live sehen. Ich konnte mir das nie vorstellen, wenn man da so sitzt, und auf einmal kommt das Wasser. 

Entsprach die Realität Ihren Vorstellungen und Ihren Erwartungen?

Ja! Ja, allein der Duft. Andere haben mir gesagt, dass es woanders, z. B. in Holland nicht so stark ist, auch mit dem Wind. Ja, alles, was ich mir so gedacht habe, ist eingetreten. Die ganze Ruhe. Überhaupt, was das Meer und die Umgebung so ausstrahlen. Das war alles ganz neu.

Das klingt fast so, als hätte es ihre Erwartung fast noch übertroffen.

Ja. Aber am Anfang, am ersten Tag, war ich sehr gestresst; von der Fahrt, den Eindrücken, der Frage, was jetzt alles auf mich zukommt; auch die Aufregung vor der neuen Dialyse. All das ging mir noch ständig durch den Kopf. Aber der nächste Abend, als wir runter gegangen sind ans Meer, da kam dann diese Ruhe. Das war einfach nur angenehm.

Also am zweiten Tag, da konnten Sie so ein bisschen abschalten und sich einfinden?

Ja, und dann kam es auch immer mehr, die Ruhe vor allen Dingen. Ich war einfach da – auch irgendwie gelassener. Hier ist alles sehr viel mehr mit Stress verbunden. Allein die Fahrt zur Dialyse. Aber dort war alles so entspannt. Auch die Leute, die man getroffen hat, waren alle irgendwie entspannter. Nicht so gestresst wie hier überall in der Stadt. – Aber leben könnte ich da nicht.

Ach, das ist spannend. Warum nicht? Zu ruhig?

Ja, das wäre mir zu ruhig. Die Leute auf Zeit, nee. Urlaub zu haben – ja. Auch ein paar Wochen mehr, super! Aber, irgendwann würde es mich da wegziehen. Ich habe mal auf dem Land gelebt, da war es auch irgendwann so.

Würden Sie also sagen, dass die Stadt mehr so ihr Lebensmittelpunkt ist? 

Ja. Aber ich könnte es mir auch schon allein aufgrund meiner Krankheit nicht mehr vorstellen, auf so einer abgeschotteten Insel zu leben. Die Versorgung und so sind dort ja nicht so gut.

Aber Sie sagten, dass mit der Dialyse hat funktioniert? Sie mussten, glaube ich, dreimal pro Woche dorthin?

Ja. Und das war reibungslos – wie hier. Taxi holt einen und fährt einen dorthin.

Wie war denn so Ihr Tagesablauf auf Norderney? Haben Sie in den Tag hineingelebt? Was haben Sie so gemacht, außer aufs Meer geschaut? Wegen Corona konnten Sie wahrscheinlich keine Touren machen?

Wir haben viel erzählt, Musik gehört, viele Gespräche geführt und schön auf der Terrasse lange und ausgiebig gefrühstückt. Und dann sind wir raus, entweder ans Meer oder in die Stadt. Da sind wir ein bisschen bummeln gegangen, haben uns Geschäfte angeguckt, mal einen Kaffee getrunken oder eine Kleinigkeit gegessen. Also, die Zeit ging einfach rum. Es war nicht so, dass wir uns gelangweilt hätten. Eher im Gegenteil. Wir sind gelaufen, nach Hause gekommen, haben was gegessen und schon waren drei vier Stunden um.

Wenn ich richtig informiert bin, kann man auf Norderney nicht mit dem Auto fahren. D.h., Sie mussten tatsächlich alles zu Fuß machen. Das war in Ordnung trotz Ihrer Gehbeschwerden?

Ja. Ich bin gemütlich gegangen. Einmal hatte ich Probleme in der Stadt. Da ging es mir richtig schlecht. Aber ansonsten sind wir immer mit großen Pausen gelaufen, haben uns immer wieder hingesetzt. Vom Wetter her war es auch ok. Bis auf die letzten beiden Tage, da hat es viel geregnet. Aber raus sind wir eigentlich jeden Tag. Es war auch etwas ganz anderes, ob ich mich hier mal mit der Heidi auf einen Kaffee treffe, oder man macht das da. Es war schon ein ganz anderes Miteinander, ein anderes Umfeld – allein die Kulisse.. Man weiß, man ist im Urlaub.

…und nicht im Lighthouse-Trott!

Genau. Es war alles so neu, so beeindruckend. Echt schön. Ich kann es jedem nur empfehlen, der noch nicht da war, am Meer. Ich bin sehr froh, dass ich das erleben konnte und durfte.

Ja, das Kompakte war schon ein Erlebnis. Ganz besonders war, wo wir am Meer gesessen haben. Abends, der Sonnenuntergang, der Duft, der Wind, die Vögel, die Möwen – die kannte ich ja so auch noch nicht – das Wasser, die Geräuschkulisse! Ja, das war schon eindrucksvoll.

Die Fahrt mit der Fähre natürlich auch. Das war aufregend. Da war mir auch ein bisschen mulmig, als auf der Rückfahrt so ein starker Seegang war. Mit der Fähre war aber unsere einzige Bootsfahrt. Die Tour zu den Robben durften wir ja leider nicht machen, das ging ja alles wegen Corona nicht, auch die Kutschfahrt nicht. Aber es war auch so sehr schön.

Ich würde gerne die Sache mit den Eindrücken noch etwas vertiefen. Wenn Sie noch einmal die Reise Revue passieren lassen – ein, zwei Erlebnisse oder Momente, die besonders schön für Sie waren – können Sie die benennen? Momente, die heute noch nachwirken.

In der Ferienwohnung haben Sie sich selber versorgt, oder waren Sie auch mal essen?

Wir haben uns selber versorgt. Wir haben uns, glaube ich, einmal Fischbrötchen gekauft. Einmal hat Heidi frische Krabben auf dem Markt gekauft, und dann haben wir Krabben mit Rührei gemacht.

Mit welchem Gefühl haben Sie Norderney verlassen?

Ja, was heißt „traurig“!? Ich hätte schon gerne eine Woche oder zwei drangehangen. Man hatte sich gerade an das Klima gewöhnt, ist so ein bisschen in diesen Alltag dort reingekommen, und dann geht man… Aber man weiß ja auch: Das Leben spielt hier. Das hat man ja auch im Kopf. Das geht ja nicht weg, nur weil man irgendwo in Urlaub ist. Leider kann man das nicht so ganz abstellen. Und dann ist die schöne Zeit, die ruhige, auch wieder vorbei. 

Ich bin auf jeden Fall entspannter wiedergekommen. Ich will nicht sagen, dass ich jetzt schon wieder total angespannt bin. Aber hier passiert doch mehr. Ich habe wieder jede Menge Arzttermine. Das holt einen schnell wieder ein, das ist schade. Die ersten zwei Wochen nach dem Urlaub habe ich ständig davon erzählt, auch bei meinen Jungs in der Stadt. Die haben mich ja auch gefragt. Ja die haben schon alle gemerkt, dass ich anders drauf war. Lockerer und so. Ich sah gesünder aus, haben die gesagt, von der Hautfarbe her. 

Wenn ich das richtig verstanden habe – ich will das jetzt nicht dramatisieren, aber passt es zu sagen, dass mit der Reise ans Meer, das Meer mal zu sehen und zu spüren, ein kleiner Lebenstraum in Erfüllung gegangen ist? Oder geht das zu weit?

Tja, was sind Träume!?

Was sind Träume für Sie?

Tja, man sagt das Wort so schnell: Ich habe noch einen Wunschtraum. Ja, es war für mich schon ein Wunschtraum, einmal ans Meer zu kommen. Der Traum ist jetzt weg. Habe ich jetzt noch einen neuen Traum? Ich glaube nicht.

Sicher?

Ich weiß, dass das alles nicht eintreffen wird, was ich vielleicht so als nächsten Wunschtraum habe. Ich weiß, dass jetzt alles, was noch an Träumen kommen würde, nicht in Erfüllung gehen wird. Deshalb brauche ich auch gar nicht daran festzuhalten oder dafür zu kämpfen. Das Meer zu sehen, war ein Ziel, das möglich war zu erreichen. Und es war für mich ein Kindheitswunsch. Ich war nie weit gekommen. Bis zur Sieg oder zum See vielleicht, um dort ins Wasser zu springen. Ich habe nicht mal Geld fürs Freibad gehabt. Deswegen war es für mich schon ein großer Wunsch. 

Was für Ziele haben Sie jetzt?

Keine. Im Moment habe ich keine Ziele. Nicht wirklich.

D. h., Sie leben von Tag zu Tag, um ihn zu füllen?

Ja. Der Tag wird aber auch durch meine Krankheit gefüllt. Ich brauche nicht viel zu tun. Die Termine werden durch die Krankheit bestimmt. Ziele, nee, habe ich nicht.

Wenn Sie ein Fazit ziehen: War diese Reise eine gelungene Aktion?

Ja sicher! Ja, ich bin dafür auch sehr dankbar, wirklich aus dem Herzen heraus! Ich weiß gar nicht, wie man dafür danken kann. Das war wirklich groß. Ich kann jetzt zufrieden in den Himmel gehen. Ja – das, was ich immer wollte, das wurde mir jetzt erfüllt. Man hat jetzt noch so kleine Lichtpunkte – denk‘ ich hat jeder – aber so ein wirklich großes Ziel habe ich jetzt nicht mehr.

Können Sie die Lichtpunkte benennen?

Ja, dass ich noch ein paar Jahre lebe. Das ich nicht schmerzvoll hier leiden muss. Das ist noch ein Wunsch. Wie lange ich das alles noch mitmachen möchte, weiß ich nicht. Im Moment – ja. Aber es wird halt immer weniger mit der Lebensmotivation. Mein Augenlicht verlässt mich. Das macht mir sehr viel Angst, das frustet mich sehr. Man kann nichts mehr alleine machen. Man fühlt sich so unsicher. Die Motorik ist halt auch nicht so gut, und dann tritt man womöglich ins Leere, wenn man keinen Bürgersteig sieht. Das ist noch ein Wunsch: dass mein Augenlicht noch so lange bleibt, wie ich lebe. Ich möchte nicht blind sein und noch leben. 

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Nach dem Gespräch, als das Mikro schon ausgeschaltet war, ist Christof doch noch ein kleines Lebensziel eingefallen. Er würde gerne noch zu einem Fußballspiel des FC Köln ins Stadion. Wenn Corona es möglich macht, sollte dieser Wunsch wohl erfüllt werden können.