Blog: Texte aus dem prallen Leben bei Bonn Lighthouse – Verein für Hospizarbeit
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Trauerbegleitung bei Bonn Lighthouse

Lernen, mit der Trauer zu leben – nicht ohne sie!

Trauer verläuft individuell und braucht bei jedem Menschen ihre jeweils eigene Zeit und ihren eigenen Raum. Nicht gelebte Trauer kann negative Auswirkungen auf physische und psychische Gesundheit haben. Daher ist es oft lebenswichtig, Trauer zuzulassen und über sie zu sprechen. Wo dies im privaten Umfeld nicht oder nicht ausreichend möglich ist, bietet Bonn Lighthouse Trauernden Unterstützung an.

Lernen mit der Trauer zu leben – nicht ohne sie!” Mit diesem Worten beschreibe ich bereits im Erstgespräch mit trauernden Menschen das wesentliche Ziel eines Trauerprozesses. Es geht in der Begleitung nicht darum, einen nahestehenden verstorbenen Menschen zu vergessen oder den Schmerz darüber vollständig zu überwinden. Trauerbegleitung ist die Suche nach einem Weg, mit diesem Verlust ein „neues“ Leben zu leben, in dem die vergangene Beziehung einen veränderten Platz erhalten kann. Dies geschieht durch eine Neuordnung, in dem die Unwiederbringlichkeit des Verlustes in die eigene Lebensgeschichte integriert werden kann.

Seit mehr als 20 Jahren begleite und berate ich bei Bonn Lighthouse erwachsene Hinterbliebene in Form von Einzelgesprächen in ihrer Trauer. Rund 160 Personen nahmen in dieser Zeit das kostenfreie, auf Spenden basierende Angebot in Anspruch (ca. 70 Prozent Frauen, 30 Prozent Männer). Die Anfragen nach Trauerbegleitungen haben in den letzten Jahren stark zugenommen, sodass mehr als zehn parallele Begleitungen keine Seltenheit mehr sind. Auch die Dauer der Begleitungen hat sich verlängert. Hier machen sich aktuell die Auswirkungen von Corona bemerkbar. Die Einschränkung sozialer Kontakte und die damit verbundene Einsamkeit spielen für Trauernde in der für sie ohnehin schon äußerst belastenden Lebenssituation eine noch größere Rolle als für alle anderen. Die „Kraftquelle Mensch“, die nach schweren Verlusten eine sehr wertvolle sein kann, brach bei einigen Trauernden nahezu komplett weg. Damit erhielten die Begleitungsgespräche noch viel mehr Bedeutung und Wichtigkeit. Nicht wenige Begleitungen gehen derzeit über den Zeitraum von einem Jahr hinaus, was zum Teil mehr als 20 Gespräche pro Begleitung bedeutet. Dies liegt deutlich über dem vorher durchschnittlichen Umfang. Ich bin daher sehr froh, dass Bonn Lighthouse seit dem vergangenen Jahr durch Elke Trevisany kompetente Verstärkung in diesem Bereich erhalten hat.

Die Anfragen für Trauerbegleitung bei Bonn Lighthouse erfolgen zumeist telefonisch durch die Betroffenen selbst. Über das Internet oder durch persönliche Empfehlungen sind sie auf dieses Angebot aufmerksam geworden. Seit einiger Zeit kommen auch über unseren Kooperationspartner am Universitätsklinikum Bonn, der Palliativstation Saunders, verstärkt Anfragen. Das Saunders-Team nimmt in diesen Fällen nach Rücksprache mit den Angehörigen Kontakt zu mir auf und fragt die bestehenden Ressourcen ab. In den letzten beiden Jahren haben sich auf diesem Wege sechs Begleitungen ergeben.

In einem ersten Gespräch mit den Trauernden geht es um das gegenseitige Kennlernen und darum, das Begleitungskonzept von Bonn Lighthouse vorzustellen. Natürlich bleibt schon in diesem Erstkontakt viel Raum, um über die aktuelle Situation und Befindlichkeit der Hinterbliebenen zu sprechen. Am Ende dieses Gespräches wird gemeinsam über den weiteren Begleitungsverlauf entschieden. Während des Begleitungsprozesses resümiere ich mit den Trauernden jeweils nach fünf Gesprächen, an welcher Stelle sie sich aktuell befinden, was sich verändert hat, was als hilfreich empfunden wird und welche Form der Unterstützung es noch braucht, um so die Richtung und Perspektiven für das weitere Vorgehen festzulegen.

Trauer ist keine Krankheit, für die es einen festen Therapieablauf gibt

Jeder Trauerprozess ist in seiner Dauer und Dynamik individuell. Trauer ist komplex, verläuft häufig chaotisch, nicht kontrollier- oder steuerbar, und sie ist kognitiv wie emotional schwer zu erfassen. Wenn ich Betroffenen erkläre, dass ihr Empfinden und ihre Wahrnehmung nicht pathologisch, sondern feste und normale Bestandteile von Trauerprozessen sind, ist das für sie häufig bereits eine sehr wertvolle Information. Denn viele erleben, dass es eine gewisse gesellschaftlich tolerierte Trauerzeit gibt. Danach hören sie von Zugehörigen, dass sie langsam mal wieder „in die Spur kommen“, sich zusammenreißen und den Blick wieder in eine bessere Zukunft richten sollten. Es gibt also mitunter nicht mehr genügend Raum, Verständnis oder Rückhalt in dieser belastenden Lebensphase. Dies ist einer der Gründe, die mir häufig genannt werden, unser Begleitungsangebot anzunehmen. Ein weiterer Grund ist das Wissen, dass das Gegenüber im Trauergespräch fachlich geschult und belastbar ist und sich in einer neutralen Position befindet.

Bemerkenswert ist auch, dass einige Personen nach einer Psychotherapie, in der sie sich im Umgang mit ihrer Trauer unverstanden und emotional nicht aufgehoben fühlten, den Weg zur Trauerbegleitung finden. Auf mich wirkt das so, als fehle es der Psychotherapie noch an angemessenen Konzepten, um dem Verlauf und dem Wesen der Trauer gerecht zu werden. Vielleicht liegt es jedoch auch daran, dass Trauer keine psychische Erkrankung darstellt und somit nicht „therapiert“ werden kann und muss.

Vor diesem Hintergrund gibt es auch ganz klare Ausschlusskriterien für eine Trauerbegleitung im hospizlichen Kontext. Dazu gehören z. B. Traumata sowie andere schwere psychische und/oder Suchterkrankungen. Die im intensiven und normalen Trauerprozess auftretenden Bilder von denen bei psychischen Erkrankungen zu unterscheiden, ist eine äußerst wichtige Kernkompetenz im Kontext hospizlicher Trauerbegleitung.

Unser Konzept der Trauerbegleitung

Kernthemen während eines Trauerprozesses sind unter anderem das Finden und Nutzen von persönlichen Ressourcen, Strategien im Umgang mit emotionalen Schmerzspitzen, das Erklären und Aushalten der Trauerdynamik („Achterbahnfahrt der Gefühle“ – Zitat einer Trauernden), Raum und Verständnis für alle vorhandenen Gedanken und Emotionen, Erinnerungsarbeit, Organisation des Alltags, vorsichtiges Suchen nach neuen (Lebens-)Perspektiven.

Methodisch nutze ich neben der personen- und ressourcenorientierten Gesprächsführung gerne die Biografiearbeit, in der die trauernde Person das gemeinsame Leben mit der verstorbenen Person mit all seinen Facetten noch einmal betrachten kann. Hinterbliebene teilen hier die verschiedenen Lebensabschnitte in Kapitel ein. Jedes Kapitel erhält eine Überschrift, die die Eigenarten und Besonderheiten dieses Lebensabschnitts widerspiegelt. Vergangene Beziehungen erhalten so eine umfangreiche und ganzheitliche Sichtweise. Betroffene erarbeiten damit eine Art „Buch des Lebens“ (Zitat einer Trauernden), mit dem sie ihre Erinnerungen nachhaltiger bewahren können.

Gelegentlich wende ich auch die Methoden der Textarbeit oder Phantasiereisen (mit den Schwerpunkten „eigener Trauerweg“ oder Zukunftsaussichten) an. Priorität einer jeden Sitzung, die rund eine Stunde dauert, haben jedoch erst einmal immer die akuten Themen und Emotionen, die im gegenwärtigen Alltag eine große Rolle spielen. Nicht selten gebe ich auch eine „Hausaufgabe“ in Form eines Impulses, mit dem sich die Trauernden zwischen den Begleitungsgesprächen auseinandersetzen können. Dazu gehört z. B. eigene Kraftquellen zu benennen, Fotos auszusuchen und Rollen oder Werte der verstorbenen Person zu beschreiben. Dieser Zeitraum bis zum nächsten Gespräch ist aus meiner Sicht sehr wesentlich, da hier die in den Sitzungen besprochenen Aspekte wirken und den Trauerprozess in Bewegung halten.

Für mich persönlich ist meine inzwischen mehr als zwanzig Jahre währende Tätigkeit in der Trauerarbeit eine große Bereicherung. Da ist zunächst einmal viel Dankbarkeit, Menschen nach unfassbar schweren Verlusten durch eine Zeit der Schwere, Verzweiflung, Ohnmacht, Verletzlichkeit, Wut, Angst, Mut, Wendungen und Suche nach Neuem begleiten zu dürfen. Eine solch vertrauensvolle und intime Beziehungsarbeit sucht ihresgleichen und stellt mit ihren existenziellen Themen in meiner Wahrnehmung eine sehr essenzielle Begegnung von Mensch zu Mensch dar.

Zu erleben, aus welch‘ tiefen Tälern sich Trauernde manchmal auch lange Zeit nach dem Verlust nahestehender Menschen in ihrer eigenen Geschwindigkeit und individuellen Gesetzmäßigkeiten zarte neue Lebensperspektiven schaffen und neue Wege ohne die verstorbene Person einschlagen können, ist eine wundervolle Erfahrung. Ich habe für diese Trauerwege viel mehr Hochachtung und gleichzeitig mehr Respekt vor der Bewältigung eigener schwerer Verluste bekommen. Der Mut und die Kraft vieler begleiteten Menschen stimmen mich zuversichtlich, bei eigener Betroffenheit meinen ganz persönlichen Weg in einer solchen Lebenssituation zu finden.

Und daher lautet mein Fazit, auch wenn es ein wenig seltsam klingen mag: Trauerbegleitung ist eine wertvolle und schöne Arbeit!

Jürgen Goldmann (2021)