Blog: Texte aus dem prallen Leben bei Bonn Lighthouse – Verein für Hospizarbeit
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Gastbeitrag von Monika Müller

Das Märchen von der Trauer-Verarbeitung

Monika Müller ist Pädagogin, Beraterin, Fachbuchautorin und Therapeutin. Sie hat über viele Jahre hinweg wesentlich zum Aufbau der Hospizbewegung und deren Strukturen in Deutschland beigetragen. Sie ist eine gefragte Dozentin und hält u. a. Vorträge, in den es um die Begleitung sterbender und trauernder Menschen geht. Zudem führt sie Befähigungskurse zur Trauerbegleitung durch und Fortbildungen für Menschen, die beruflich mit Trauernden in Berührung kommen.

An eine endgültige Verarbeitung von Trauer im Sinne einer Erledigung eines schweren Geschäftes glaube ich nicht, wohl aber an die Möglichkeit und Fähigkeit von trauernden Menschen, einen Umgang mit ihr zu finden, der seelisches Gleichgewicht, Lebensqualität und -perspektive, vertieftes Verständnis für sich und andere und Sinnfindung zeitigt. Wenn ich trotzdem beispielhaft von Hilfestellungen in der Begegnung, Beratung und Begleitung trauernder Menschen spreche, so um darzulegen, dass sie Möglichkeiten im Umgang mit ihrer Trauer zur Verfügung haben und dass es Wege gibt, die sie aus der alles besetzenden akuten Trauer im Verlaufe ihrer Zeit finden können.

Ich vertraue aus Erfahrung darauf, dass eine durchlebte Trauer, ein durchlittener Prozess zu einem vertieften Lebensgefühl, zu Reife, zu Sinn: zur Selbstwerdung führen kann.

Weil Trauer in jedem Menschenleben vorkommt, ist sie zunächst etwas ganz Normales, auch wenn ihr Erscheinen mit einem Herausfallen aus der Normalität verbunden ist. Sie ist nicht der Ausnahmefall von Leben, sie ist nicht die Katastrophe, die grundsätzlich ein bösartiges Schicksal hinter sich hat, sie ist kein Abweichen von Gesundheit, also keine Krankheit. Die Trauer ist normal, ein Bestandteil und eine Aufgabe des Lebens. Sie ist Leiden im Gesunden. Trauer ist in ihrer Macht und Gewalt nicht zu unterschätzen, aber die meisten Menschen lernen mit dieser ihrer Trauer irgendwann umzugehen, durchleben sie – nicht selten über mehrere Jahre – und üben sich darin ein, mit ihr neu und oftmals auch wieder lustvoll zu leben. Meist genügt ein geringes Maß an Stütze und Begleitung, vor allem verständnisvolle Angehörige, Kollegen und Nachbarn, um diese Herausforderung sinnerneuernd zu meistern.

„Trauer arbeitet mit und am Verlust,
arbeitet am Abschied, und ist darin im Grunde
ein überaus lebendiges Geschehen.“

Trauer arbeitet mit und am Verlust, arbeitet am Abschied, und ist drin im Grunde ein überaus lebendiges Geschehen. Trauer lässt sich nicht in einem vorher auslegbaren Plan festmachen. Sie folgt zwar bestimmten Gesetzmäßigkeiten des Prozesses, in aller Individualität finden sich grundlegende Gemeinsamkeiten, die den Trauerweg kennzeichnen, und doch wird sie von jedem/jeder aus der Wurzel der eigenen Geschichte, der eigenen Entwicklung, der ganz konkreten Lebensumstände je anders gestaltet. Trauer verläuft daher auch nicht gradlinig in einer vorbestimmten Entwicklung zu einem Ziel hin. Viele Trauernde leiden unter dem Erleben, immer wieder zurückzufallen: Es gab Zeiten, da glaubte der trauernde Mensch, endlich wieder etwas mehr Halt im Leben gefunden zu haben – und fällt gerade nach dieser so sehnsüchtig erwarteten Erleichterung und Rückkehr ins Leben in ein – möglicherweise – noch tiefer empfundenes Loch zurück. Und äußert seine Sorge, wieder ganz neu mit dem Trauerweg beginnen zu müssen und keinen Zentimeter vorangekommen zu sein. Da haben sich Trauernde mühevoll eingerichtet, sich mit bestimmten Haltungen gegen unsensible Äußerungen der Umwelt weniger verletzbar zu machen – und plötzlich reicht eine kleine Andeutung, um die anfänglich geschlossene Wunde wieder aufzureißen.

Und dann geht das herzzerreißende Herumirren auf dem Trauerweg vermeintlich gänzlich unverändert von neuem los. Und doch geht der Prozess nicht von neuem los, sondern er geht weiter. Das bereits Erlebte und in der Trauer mühsam Erarbeitete geht mit, zeigt sich jedoch in diesem Moment nicht, hat sich zurückgezogen und hält sich verborgen. Und doch hat es dem trauernden Menschen wieder etwas Kontur zurückgegeben, ihm wieder etwas Eigen-Sinn verliehen. Diese Gedanken- und Gefühlseinbrüche werden von Mal zu Mal seltener und von Mal zu Mal weniger heftig. Dem immer wieder neuen Eintauchen in die Niederung der Trauer mit ihrer Gewalt auf diese Weise ausgesetzt zu sein, ist ein Prozess der Seele, die vom ersten Moment der Trauer an auf schöpferischen Neubeginn setzt. Jedoch erst im Nachhinein, oft nach Jahren durchlittener sowie durch- und überlebter Trauer, können Menschen ihr Trauererleben als einen schöpferischen Prozess des Neubeginns und der Selbstwerdung erkennen.

So betrachtet wird das Trauern im Durchleiden und Durchleben wie eine Art lange Geburt. Die Phantasie ist schnell beflügelt, Vergleiche zwischen Trauer- und Geburtsvorgang zu ziehen im Erleben der Anstrengung „auf Leben und Tod“ bis hin zu neuem, eigenständigem Atmen, Bewegen, Leben. Dass sich der Mensch am liebsten diesen Werde-Gang mit seinem unausweichlichen Schmerz, der zuweilen auch den Tod herbeisehnt, ersparen möchte, ist mehr als verständlich. Daher gibt es keinen Grund, sich Trauerprozesse verherrlichend zu ersehnen, um neue Lebenseinsichten gewinnen zu dürfen. Das Trauern ist ein Teil unserer Natur, wie der Verlust auch. Wir scheinen dem aber nicht nur ausgeliefert und passiv überlassen zu bleiben. Es geschieht Schöpfung – mehr als „nur“ am Anfang des Lebens und in kreativen Phasen aufbauenden Lebens. 

Eines kann der Prozess eines Trauerweges, der nicht im Tod endet, mit ziemlicher Sicherheit verheißen: Das Leben geht weiter; es geht anders weiter, nicht nur schlechter, nicht nur schwerer, aber deutlich anders und wird manchmal auch als eröffnend neu erlebt. 

Monika Müller (2021)